»Ein ganzer Mann ist bloß ein halber Mensch.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Thomas Scheskat, Göttingen

Zwei Männer mit Gesichtsbemalung
Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: stefan m., photocase.de | privat

 
Thomas, was war dein persönlicher, biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Und was dein politisch-thematischer?
Ich würde meine Antwort in drei Ebenen differenzieren, auch wenn sie alle eng miteinander zusammenhängen. Persönlich sind für mich Unterlegenheitserfahrungen als Junge wichtig gewesen, in Ringkämpfen oder Prügelauseinandersetzungen wusste ich mich nicht durchzusetzen, hatte davor auch immer Angst. Gleichaltrige oder auch Ältere habe ich oft als gemein und unfair erlebt, weil es um Herausforderungen und Angriffe ging, um Dominanz und Einschüchterung, was die Angreifenden wie als Beweis für ihre Stärke benutzt haben. Das hat mich geängstigt; erst später habe ich mir über diesen Zusammenhang viele Gedanken gemacht. Mit Angreifenden und um Überlegenheit Bemühten wollte ich mich also nie identifizieren, und das hatte auch viel mit meiner Familienerziehung zu tun, wo es eher um Fairness oder korrektes Benehmen ging, was ja grundsätzlich gut ist – nur auch mit der Schattenseite, zu brav zu sein und nicht wirklich Strategien gelernt zu haben, wie man sich trotzdem verteidigen und durchsetzen kann.
In diesen persönlichen Bereich gehören in der zweiten Ebene auch die Erfahrungen mit Freundinnen, die unter ihrem Frau-Sein irgendwie mehr leiden mussten als ich unter meinem Junge-Sein beziehungsweise Mann-Werden. Das ging los mit solchen »Phänomen« wie deren Periode oder Benachteiligungen in der Schule, wenn es etwa hieß, Mädchen seien halt nicht so gut in Mathematik. Das ist mir immer schmerzlich aufgefallen. Trotzdem wurde ich als Junge sozialisiert, das heißt, auch »reingeknetet« in dieses subjektive Gefühl, als Mann »natürlicherweise« irgendwie überlegen oder privilegiert zu sein. Im späteren Alter waren dann meine Freundinnen frauenbewegt-feministisch unterwegs, und ich bekam aus deren Umfeld ziemlich Gegenwind. Also Kritik und zum Teil auch Hohn und Spott für alles, was als mackerhaft oder, wie wir heute sagen würden, »toxisch männlich« empfunden wurde. So entstanden meine Motive, mich zu ändern, gerne anders sein zu wollen, so dass ich diesen Frauen gefalle oder sie mich mindestens akzeptieren; das war allerdings oft auch vergeblich. Aber es hatte einen Antrieb gesetzt, mich nach neuen Identifizierungsmöglichkeiten umzuschauen. Und die fand ich dann in Männergruppen durch die Begegnung mit Männern, die ebensolche Veränderungswünsche hatten.
Auf der dritten Ebene, die ich die größere politische-historische Wetterlage nennen würde, waren diverse Kriegsgeschichten sehr bedeutsam – mein Großvater, der im 2. Weltkrieg in Russland umgekommen war, mein Vater, der als Jugendlicher bei der FlaK dienen musste, dort lebensgefährlich unterwegs war und auch Klassenkameraden sterben sah. Dann seine eigene Jungmann-Geschichte, wie er sich aus diesen Kriegswirren rausbewegt und ins neue westdeutsche Nachkriegsleben hineingefunden hat. All das hat mich mitgeprägt, hatte einerseits Vorbildcharakter, enthielt aber auch Aspekte von einem negativem Vorbild, von dem ich mich abgrenzen wollte. Den 2. Weltkrieg habe ich grundsätzlich als Katastrophe erzählt bekommen, die sich nicht wiederholen möge. Dann folgten Konflikte, die ich schon mit dem eigenen Verstand wahrnehmen konnte, wie etwa der Vietnamkrieg. Und letztlich bin ich zu einer pazifistischen Einstellung gelangt, allerdings nicht im klassischen Sinne – weil ich entschieden hatte, ich könnte mich nicht auf eine radikalpazifistische »Seeleninsel« retten und anderen, ginge es um eine Landesverteidigung, die gewissensbelastende Drecksarbeit überlassen. Heute nenne ich pazifistisch, was sich auf die Ablehnung jeglichen Angriffskrieges beziehen würde, aber davon trennen würde ich eine Bereitschaft zur Verteidigung. Was mich noch geprägt hat, war die Ablehnung von Aufopferungswillen für eine vermeintlich größere Sache, so wie mein Großvater für seine Heimatliebe – die er besaß, ohne Nazi zu sein, und trotzdem freiwillig mit in den Krieg zog. Mein Vater wiederholte dies dann vom Muster her, als er in der Wirtschaft durchstartete und bei seinem Aufstieg seine Gesundheit opferte.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern, Vätern? Wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
Als zentral sehe ich meine Erlebnisse und Wahrnehmungen von allem, was ich »Konfliktunfähigkeit« nennen würde und was mit Kommunikationsunfähigkeit zu tun hat – also mit eigenen Gefühlsspannungen eben nicht umzugehen, und wie so auch Gewalt entsteht. Ich hatte, wie schon erwähnt, eigene Erlebnisse als Kind, also wusste ich, wie sich das anfühlt, Opfer von Bedrohung oder Schlägen zu sein. Ich konnte mich von daher immer gut in Frauen hineinversetzen, die in typische Gewaltverhältnisse zu Männern geraten – typisch verstanden sowohl als die private, häusliche Familiengewalt, als auch das Bedrohtsein durch anonyme Gewalt auf der Straße oder, wie uns heute wieder deutlicher vor Augen geführt wird, im Krieg. Gewaltverhältnisse waren für mich immer zentral für die Geschlechterfragen, auch weil ich einmal erleben musste, wie eine mir nahestehende Frau Opfer einer Vergewaltigung wurde, mit Folgen, die man sich daraus nicht wünscht.
Dadurch faszinierten mich Ansätze dazu, wie mit diesen Unfähigkeiten verändernd umgegangen werden könnte. Ich habe in meinem Buch über Aggression ein Erlebnis geschildert, wie eine Rockerbande ein Schulfest an meiner Schule überfiel, ich dort einen Angriff auf einen Mitschüler mit ansah, ich den Täter der Polizei zeigte und dann später von dieser Rockerbande bedroht wurde. Warum ich diese Gewalterfahrung hier erwähne: Weil ich später durch einen Zufall wieder einigen von denen gegenübertrat, als ein Vikar einer Kirchengemeinde, der bei uns in der Schule auch Religion unterrichtete, eine Begegnung von uns Gymnasialschülern mit sozialen Randgruppen organisierte. Und so trat ich zufällig wieder einigen aus dieser Bande gegenüber, die wahrscheinlich im Rahmen des Jugendstrafvollzugs eine soziale Maßnahme abolvierten. So erfuhr ich etwas über deren Familiengeschichten und es dämmerte mir, dass nichts von nichts kommt und Gewalt Wurzeln und Ursachen hat. Diese Verständigung darüber mit den ehemaligen Tätern, die mich zuvor bedroht hatten, war schlüsselhaft für meine spätere Laufbahn als Männerarbeiter und in der Psychotherapie.
Als meine persönliche Strategie habe ich die Körperpsychotherapie entdeckt und festgestellt, dass sie nach wie vor die wirksamste Methode ist, mit Menschen an Veränderungen zu arbeiten, d.h. sie zu Selbsterkenntnis und auch zur Lust an Selbstentwicklung anzuregen. All das braucht man, um zum Beispiel Gewalttäter dafür zu gewinnen, ihre Gewaltneigungen verändern zu wollen. Dies habe ich seit nunmehr 22 Jahren im Rahmen einer psychiatrischen Klinik mit Straftätern direkt erproben und weiter ausgestalten können.
Darüber hinaus engagierte ich mich im Verein »Woge – Wege ohne Gewalt«, eine Einrichtung zum Verantwortungstraining gegen häusliche Gewalt, die ich mitgegründet und deren Arbeit ich mit entwickelt habe. Häusliche Gewalttäter bekommen hier die Chance, durch ein Training von Strafverfolgung befreit zu werden. Dabei geht es auch um männliche Identität: womit identifizieren sich Männer? Was prägt ihr Selbstverständnis? Und wie entsteht daraus Schaden, körperlich und seelisch für sich selbst, und auch für ihre Beziehungen? Wenn diese Identifizierung bei jemandem sehr eng ist und er vieles andere – etwa das vermeintlich Weibliche und Kindliche – aus dem Menschsein ausklammert, nennt er dann das, was überbleibt, das Männliche. Dafür verwende ich die Formel: Was man traditionell den ganzen Mann nennt, ist höchstens ein halber Mensch. Es entsteht so die Frage: Will ich ein »ganzer Mann« sein oder will ich ein ganzer Mensch sein? Dies sind Widersprüche, die man fruchtbar aufgreifen und bis zu der Frage führen kann: Wer will ich sein, was in mir will ich zum Wachsen bringen, und wofür bin ich auch bereit einzustehen? Wenn dies mir die »Entwertung« einträgt, dann angeblich kein richtiger Mann zu sein, kann ich das dann mit Selbstvertrauen und neuer Stärke behaupten? Dazu haben für mich die Milieus beigetragen, in denen ich mich bewegt habe, früher studentisch, dann wie auch immer linksgrünliberal, wo man sich auch in seinen Blasen verkriechen kann. Zum Ausgleich habe ich mit den real existierenden Männermilieus dennoch reichlich Kontakt gehabt: im Handballverein, bei der Bundeswehr, bei der Waldarbeit (weil ich auch mal Forstwissenschaft studiert habe), und zuletzt während der Jahre mit psychisch kranken Straftätern. Das alles mündet für mich in die neuzeitliche Kategorisierung von »toxischer Männlichkeit«. Ich halte sehr viel von dieser Begriffsidee, wobei ich aber auch davor warne, sie zu leichtfertig zu verwenden. Es muss gut erklärt werden, weil selbstverständlich nicht Männer an sich toxisch sind, sondern deren Männlichkeitsstereotypen. So kam ich dazu, Arbeitsideen zu entwickeln, die man vielleicht »Strategien der Entgiftung« nennen könnte, die Entgiftung von Aggression. Für mich ist dies schlüsselhaft, um an sich zu arbeiten – wenn man die Aggression weiterfasst und nicht nur als den feindseligen Angriff begreift, sondern als alles, was mit einer Handlungsenergie »angefasst« wird, um es zu verändern oder zu beeinflussen. So wie es im Wortsinn des alten »aggredi« schlicht bedeutet: herangehen, nach vorne gehen. Und das, was wir klassischerweise als Aggression bezeichnen, das nennen wir in der Arbeit dann »vergiftete Aggression«, wenn es eben sich selbst, andere oder unsere Beziehungen beschädigt. Davor bleibt aber: jede Menge Zumutung, auch der Mut, sich anderen mit seinen berechtigten Anliegen und Positionierungen zuzumuten, und zugleich eine gute Abgrenzung zur Gewalt zu entwickeln. Das ist mein zentrales Arbeitsthema, verbunden mit der Idee, dass sich so auch »toxische Männlichkeit« mit Selbsterfahrungsstrategien entgiften lässt. In diesen skizzierten Schritten – Selbsterfahrung, Körperpsychotherapie, Männerarbeit, Aggressionsarbeit – stecken auch die Veränderungschancen in meiner Herangehensweise: Menschen, die mit ihrer Handlungsenergie und Kraft konfrontiert werden, können sich klar machen, was sie damit erwirken oder anrichten. Die meisten finden das spannend und sind, wenn sie durch dieses Themenportal der Aggression gehen, auf einmal wundersam bereit, sich mit viel mehr noch auseinanderzusetzen, eben weil sie auf einmal die Arbeit an sich selbst entdecken und Lust darauf bekommen.
Eine spannende Erweiterung der Aggressionsarbeit ergab sich auch in der Begegnungsarbeit zwischen Männern und Frauen: sich insbesondere über das Thema Aggression mit den diversen Positionen in der Gesellschaft und den verschiedenen psychischen Prägungen durch Geschlechterbilder auseinanderzusetzen – um dann in den Dialog und wieder zueinander zu finden.
Meinen Weg über die Stationen »Männerbüro Göttingen« (1986) und dann die Entwicklung der Männerjahresgruppen mit dem Konzept »Mannsein – eine einjährige Forschungsreise«, die ich fast 30 Jahre lang an verschiedenen Orten mit 400-500 Männern durchgeführt habe, möchte ich nicht missen; ich sehe immer noch mit großer Befriedigung, was ich hierbei mit anderen Männern teilen konnte.

Für dich nachhaltige gesellschaftliche oder historische Ereignisse – auch im Kontext deiner Arbeit?
Früh schon, noch als Kind, hat mich der Holocaust extrem berührt, ich erinnere meine Fassungslosigkeit, als Anfang der 1960er Jahre die ersten Auschwitzprozesse begannen, und »SPIEGEL«-Serien darüber mit Fotos von KZ-Szenen, Leichenbergen und vielem mehr erschienen. Das hat mich vollkommen fassungslos gemacht, aber auch einen schnellen Einblick in die Realitäten dieser Welt gegeben. Später hatte ich viele Begegnungen in und mit der DDR, weil ich dort eine Liebesbeziehung hatte und mit dieser Frau in der DDR meinen Sohn bekam. Das »Ereignis DDR« – als Kriegsfolge mit der Spaltung Deutschlands, mit so vielen Dramen und Inkonsequenzen auf allen Seiten – historische Trennlinien, die auch quer durch unsere Familie gingen, Beziehungen über Grenzen zu haben, zu halten und auch wieder scheitern zu sehen, das hat mich auch geprägt. Und wie schon erwähnt: Pazifismus als die Ablehnung von Angriffskriegen, und Feminismus als großes Feld des Kampfes von Frauen um Gleichberechtigung mit allen Erfolgen und auch Irrtümern und Irrwegen, das fand ich für mich extrem nachhaltig.
Für den Kontext meiner Arbeit sind die erwähnten persönlichen Erfahrungen ebenso wichtig, der Überfall der Rockerbande und die spätere Begegnung mit denen als Art »schicksalhaftem Geschenk«. Bedeutsam waren meine Ambivalenz beim Wehrdienst aus Gewissensgründen wegen der nicht zu delegierenden Kriegsdrecksarbeit an andere, aber auch die entwürdigenden Erfahrung beim Wehrdienst selbst, sodass ich nach dem Wehrdienst dann noch den Kriegsdienst verweigerte. Die genannten Gewalterfahrungen gegen Freundinnen oder Frauen, die ich kannte, waren ebenso prägend wie die Erfahrungen während der Körperpsychotherapie-Ausbildung, die viele tiefe, innere Einblicke in die eigene Seele, auch Selbstkritik, ermöglicht haben. Dazu zählten auch die Erfahrung mit Kampfübungen, Boxen und Ringen hauptsächlich, aber auch Tai-Chi als »tänzerische Kampfdisziplin«, und wie man sie benutzen kann, um daraus eine gesunde Selbstbehauptung unter Einbeziehung des Rechts des Gegenübers machen zu können. Dies einschließlich einer guten Eigenpositionierung, die einen nicht wehrlos macht, aber bei der man auch nicht zum toxischen Angreifer wird. Und nicht zuletzt alles, was ich als Vater erlebt habe, vom Miterleben zweier Geburten mit allen Dramen und Freuden, Kleinkindfürsorge, enge Verbundenheit, Symbiose, Gefühle, und Auseinandersetzung mit einem pubertierenden Jugendlichen, aus der die Notwendigkeit entstand, aus Liebe zum Kind auch Autorität zu bilden und auszuüben, was eine Menge Zumutung für beide Seiten beinhaltete. All das in gesellschaftlicher und persönlicher Wechselbeziehung waren wichtige Elemente für meine Arbeit. – (eine Fortsetzung des Interviews folgt in Kürze)

 

 
 
 
 
 
:: Thomas Scheskat, Pädagoge M.A., absolvierte eine körperpsychotherapeutische Ausbildung sowie Weiterbildungen in Tiefenpsychologie, Psychotherapie mit Sexualstraftätern und Dialektisch-Behavioraler Therapie (DBT/IBT). Er gründete 1986 das Männerbüro Göttingen und 1997 das Göttinger Institut für Männerbildung mit. Seit 35 Jahren arbeitet er freiberuflich mit körperorientierten Verfahren in Männer- und gemischtgeschlechtlichen Gruppen, in Einzel- und Paararbeit sowie in Beratung und Coaching. Seit 2002 ist er als Stations- und Gruppenleiter im psychologischen Dienst der forensisch-psychiatrischen Landesklinik Moringen in Niedersachsen tätig. Er war Mitgründer und Vorstand der Beratungsstelle Wege ohne Gewalt e.V. Göttingen – Verantwortungstraining für Täter:innen häuslicher Gewalt.

Wir waren viele, wir sind viele, noch

Hinter sich die Nachkriegsgeneration, vor sich die Millennials: Am Ende angekommen bemerken die Boomer mal erleichtert, mal bedrückt, dass sie auch nur eine Zwischengeneration waren und sind.

Text: Frank Keil
Foto: Archiv Ulrike Steinbrenner

 
Männerbuch der Woche, 11te KW. – Heinz Bude flaniert gekonnt in seinem schmalen wie reichen Buch »Abschied von den Boomern« durch unsere leicht vergangene Gegenwart.

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Taubenauflauf

Jugendliche Mutproben in Krakau

Text und Foto: Alexander Bentheim
Reihe »Bilder und ihre Geschichte«, #22


Reise nach Krakau, Juni 2009. Viele neue Eindrücke gibt es. Zum Beispiel machen Kinder mit Schildern Werbung auf den Straßen, für die örtlichen Restaurants. Oder in den Straßenbahnen wird gleich Platz gemacht für die älteren Menschen, keine Diskussion, kein Danke. Es gibt auch kaum Alkohol in der Öffentlichkeit zu sehen, Männer tragen vor allem Bürstenhaarschnitt und viele Frauen ab 50 sind am Krückstock unterwegs.
Auf dem Hauptmarkt mit den Krakauer Tuchhallen gibt es unendlich viele Tauben. Die Jungs machen sich einen Spaß daraus, mit einem Becher Getreide möglichst viele Tauben anlocken und gleichzeitig auf Arm und Kopf balancieren zu können. In diesem Geflatter und Chaos – keine Taube gönnt der anderen etwas – sind manche kaum mehr zu sehen, einer schaffte es auf acht Vögel gleichzeitig. Skurrile Mutprobe, aber vergleichsweise ungefährlich, man könnte den Becher ja fallenlassen.



Reihe »Bilder und ihre Geschichte«
#21 | Alexander Bentheim, Jugend forscht!
#20 | Alexander Bentheim | Ursula Schäfer | Manfred »Doci« Flucht | Andreas Kleve, Neugieriges Spielen mit Images
#19 | Alexander Bentheim, Eine Frage der Perspektive
#18 | Ina Buskens, »Männer mögen es, wenn sie etwas härter dargestellt werden, als sie in Wirklichkeit sind.«
#17 | Alexander Bentheim, Zeitenwende / Beleidigungen in der Postmoderne
#16 | Frank Keil, Warten auf den nächsten Zug
#15 | Alexander Bentheim, Im Bistro am Ölberg
#14 | Alexander Bentheim, »Riskanter, als Aktien zu haben …«
#13 | Rolf Lüüs, Geschenkte Momente
#12 | Christian Thiel, Ein Augenblick der Ruhe und Verbundenheit
#11 | Tom Focke, Berliner Trompeten
#10 | Kerstin Maier, 9 Tage Glück / Familiensachen
#09 | Jo Fröhner, Rollentausch am Arbeitsplatz / Wenn Männer Männer pflegen
#08 | Kerstin Maier, Roadmovie / Männersachen
#07 | Caio Jacques, Von Luis zu Mina / Eine Reise zwischen den Geschlechtern
#06 | Alexander Bentheim und Frank Keil, Stephen Sondheim’s Musical »Assassins«
#05 | Soumita Bhattacharya, Mandeep Raikhy’s »A MALE ANT HAS STRAIGHT ANTENNAE«
#04 | Gilles Soubeyrand, Portraits und ein Interview
#03 | Jens Kuhn, Fotografische Männergeschichten und ein Interview
#02 | Kerstin Maier, 11 Freunde
#01 | Sebastian Ansorge, malender Kreativitätsbegleiter

»Auch Opfer, selbstverständlich!«

Das bundesweite Männerhilfetelefon berät betroffene Männer zu Bewältigungs- und Handlungsmöglichkeiten nach Gewalterfahrungen.

Ausschnitt Gesicht alter Mann

Text: Thomas Gesterkamp
Redaktion: Alexander Bentheim
Foto: Ruben Jacob, photocase.de (Symbolbild)

 
Gewalt gegen Männer ist ein besonders heikles Thema in der geschlechterpolitischen Debatte. Antifeministische Maskulinisten greifen das Thema auf und stilisieren sich gern zum Opfer. Sie verharmlosen die Tatsache, dass im häuslichen Umfeld überwiegend Frauen die Leidtragenden sind. Umgekehrt war es lange ein Tabuthema, dass manche Männer ebenso gewaltbetroffen sein können. Ein Pilotprojekt in Ostwestfalen bietet ihnen seit knapp vier Jahren Hilfe an.

Zum Beitrag

»Schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen kann oft der Ansatz für eine Lösung sein.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Michael Roth, Duisburg

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: privat

 
Michael, was waren deine biografischen Zugänge zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Welche Themen waren damals und heute zentral in deiner Beschäftigung mit Jungen und Männern? Und wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
Als 15-jähriger Georgspfadfinder übernahm ich eine Juffi-Gruppe (Juffis werden die Jungpfadfinder genannt) mit ca. acht Jungen im Alter 10-12/13 Jahren; es war die Zeit der 1968er. Mit 16 wurde ich – als Nachfolger meines 5 Jahre älteren Bruders – zum sog. Stammesleiter einer (Vor)Ortsgruppe gewählt, den Posten hatte ich ca. fünf Jahre lang inne. Und mit 17 leitete ich ein Lager in der Eifel mit ca. 18 Jungen.
Mein Vater – 43 Jahre alt, als ich 1952 als jüngstes von drei Kindern geboren wurde (es gab neben dem Bruder noch eine knapp drei Jahre ältere Schwester) – war Modellbaumeister und hatte eine Schreinerei hinter unserem Wohnhaus. Nach meinem Bruder ging auch ich dort in die Lehre, weil es »so einfach« war und ich daher auch viel Zeit bei meinen Pfadfinderfreunden verbringen konnte.
Mein Vater war von ca. 1927 bis 1936 in der katholischen Jugend aktiv und erzählte uns Kindern einiges aus dieser Zeit, von seiner Jugendgruppe, den gemeinsamen Unternehmungen, Radtouren, Wanderungen, Zeltlagern und von Jugendkaplänen, mit denen sie Tischgottesdienste – Eucharistiefeiern im kleinen Kreis – feierten. Das hat uns Kinder geprägt. Ich übernahm die progressive, kritische Einstellung zur katholischen Kirche, war immer bemüht, das für die Menschen und für die Gemeinschaft Wichtige aus den »Lehren« der Kirche umzusetzen. Ich hatte das Glück, immer wieder Priester zu erleben, die auch offener dachten. Meine eigene junge Familie kehrte dann mit einigen anderen ehemaligen Pfadfindern der konservativen Ortsgemeinde den Rücken, denn wir fanden Gefallen an der kleinen Gemeinde in der Innenstadt, die von einem weltoffenen Karmeliterpater geleitet wurde. Über 20 Jahre lang war ich dort im Gemeinderat leitend tätig und konnte sogar meine Vorstellung von einer Gemeinde ohne amtliche priesterliche Leitung umsetzen.
Das Gemeinschaftliche, das gemeinsame Tun in der Gruppe, hatte mich auch angesteckt; seit der frühen Jugend war ich mit der »Arbeit« mit Jungen und Jugendlichen im Sinne einer steten Organisation des gemeinschaftlichen Zusammenseins »betraut«. Ich habe dann auch Leiterkurse besucht, mein Wissen mit etwas Pädagogik und Psychologie angereichert, und bis zum Alter von ca. 26 Jahren war ich in verschiedenen Stadtleitungen der DPSG-Jugendarbeit aktiv. Während meiner Zeit als Leiter veränderte sich die DPSG als Organisation stark: Aus dem Verband der »Waldläufer« wurde ein moderner Jugendverband, der gemeinschaftlich und sozial engagiert ist, und dessen selbständige Ortsgruppen den katholischen Kirchengemeinden nahe, aber nicht von ihnen abhängig sind. Noch einige Jahre später wurde aus dem Jungenverband ein koedukativer Verband.

Gab es für dich nachhaltige gesellschaftliche Ereignisse – auch für den Kontext deiner Arbeit und für deine privaten und beruflichen Beziehungen?
Das Zusammensein von Jungen/Männern und Mädchen/Frauen war für mich eine nachhaltige Erfahrung, ich lernte Gleichberechtigung im Miteinander. Das half mir im weiteren Leben: bei der Organisation von Aktionen z.B. im Umweltschutz, für den damals sog. »Dritte Welt«-Gedanken, hinsichtlich von fairem Handel oder für benachteiligte Menschen. Aber auch als Verliebter, als Ehemann, als Vater eines Sohnes und zweier Töchter sowie als Lehrmeister von drei Frauen und 27 Männern spielte die Erfahrung und Vermittlung von Gleichberechtigung eine wichtige Rolle.
Besonders das demokratische, gemeinschaftliche Handeln ist eine Erfahrung, die ich nicht missen will. Dabei war das Miteinander im Pfadfinderverband ein wichtiges Erfahrungsfeld, in dem ich auch meine kritische Haltung zu »Obrigkeiten«, besonders zu autoritären wie der katholischen Kirche, entwickelt habe.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Zum 40sten Geburtstag schenkte mir ein Bekannter ein Männerbuch – den Titel weiß ich nicht mehr, aber das Lesen über Freiräume für Männer in der Ehe und über Männergruppen weckte eine neue Seite in mir. Ich war durch die vorhergehende Beratungsarbeit, mit der wir aus unserer ersten Ehekrise herausfanden, sensibilisiert. Zum 41sten im Kreis der Männergäste habe ich eine Männergruppe im westlichen Ruhrgebiet gegründet. Und bei den Gruppentreffen habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass alleine schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen oft der Ansatz für eine Lösung sein kann, dass die Sichtweisen und Reaktionen der anderen Männer etwas in mir und den Männern in Bewegung brachte.
Mit 47 Jahren – 1999 war das – habe ich an einem Männerseminar der evangelischen Kirche mit Richard Rohr teilgenommen; mein erster Kontakt zu »fremden« Männern und meine ersten Gespräche mit schwulen Männern.
2000 bin ich als Teilnehmer zu den bundesweiten Männertreffen gekommen, was in gewisser Weise spät war. Ich habe dort und in den späteren Männertreffen die Vielfalt der Männer, die sehr unterschiedlichen Bedingungen ihres Heranwachsens, ihrer jeweiligen Familiensituationen und von den Beziehungen der Männer zu ihren Vätern erfahren.
Das Jahr 2000 sollte auch mein Sabbatjahr werden; mit einem Mann aus der Männergruppe bin ich auf den »Spuren der Kaiser« (alter Krönungsweg) nach Rom geradelt. Drei Wochen enges Männerzusammenleben führte zu Erfahrungen, die ich schätzen gelernt habe: Vertrauen auf den Anderen, faire Auseinandersetzungen, Respekt, Nähe, Gemeinschaft.
Rückblickend denke ich: ohne die Erfahrungen mit Gruppen und Männern hätte ich keinen Freunde*innenkreis. Auch wären mir einige Dinge nicht gelungen: der Zusammenhalt in der Ehe mit der Entstehung einer 15-köpfigen »Sippe«, die Ausbildung von meist schon älteren bzw. volljährigen Azubis, die Gründung eines »Dritte Welt Ladens« sowie der langwierige Prozess der Umgestaltung der Gemeinde zu einer Gemeinschaft mit selbstbestimmender Leitung.

Hast du ein Lebensmotto?
Probieren geht über studieren – oder: Versuch macht klug.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Machen, Zuverlässigkeit, 80% Toleranz, Treue.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Im Orga-Team zur Vorbereitung der Männertreffen habe ich Erfahrungen mit dem Ausdiskutieren von Argumenten über die Konsensfindung bis hin zu einstimmigen Entscheidungen gemacht. Ich denke, nach dieser Erfahrung, dass in unserer Gesellschaft heute zu oft fehlt: andere zur wirklichen AUS-Sprache kommen zu lassen, einander zuhören, nachfragen, Gemeinsamkeiten und Verbindendes suchen – was bedeutet, sich auch immer wieder auf andere Menschen einzulassen und ihr »Sosein« zu respektieren.
Die immer noch vorherrschende männliche Macht in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft beeinflusst unser Denken. Ich erlebe jetzt im Alter, dass sich bei den Männern eine Teilung auftut: die einen werden sensibler, weicher, einfühlsamer, andere bleiben »Indianer«, »Männer wie wir«, hinter ihren uralten Mauern.
Da unser Leben auf Gemeinschaft, auch Partnerschaft angelegt ist, habe ich meiner Frau und Partnerin viel in meiner Reifung zu verdanken. Sie hat mir immer wieder mein Verhalten gespiegelt. Oft habe ich das zunächst »hart« empfunden, aber in der Reflexion später annehmen können – zumal mich meine Partnerin besonders in meinen schweren Zeiten unterstützt hat.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Im letzten Lebensdrittel erfolgt für mich die »Kür«: nachdem im ersten Drittel das Lernen dran war, im zweiten Drittel die Arbeit, die Familie und das Wirtschaften (und meine Frau trug die Hauptlasten in der Familie einschließlich der Kinder), will ich nun mehr mittragen, auch mehr mitgestalten an einer friedlichen Welt. Nach 45 Ehejahren mit meiner Frau Ingrid sind unsere drei Kinder und sieben Enkelkinder zugleich Baustellen und Genuss in dieser Welt. Sie haben unsere volle Unterstützung, solange wir können und sie uns anfordern. Das heißt für mich »allzeit bereit« und »look to the kids« – alte Pfadfinder-Sätze bleiben aktuell.
Und in einem Teil der dann noch verbleibenden »freien Zeit« sorge ich als Mitarbeiter im ADFC mit für ein fahrradfreundliches und sicheres Duisburg – mein Beitrag zum besseren Klima und zur Mobilität der Nachkommen.

ps. Mittlerweile weiß ich wieder, welches Männerbuch mir geschenkt wurde – es war Sam Keen’s »Feuer im Bauch« …

 
 

 
 
 
 
 
:: Michael Roth, geb. 1952 in Duisburg und immer dort geblieben, geprägt vom Dreiereck Pott, Niederrhein und dem Bergischem. Nach Realschule Modellbauer-Handwerk (Gießerei) erlernt. Als Tischlermeister die Werkstatt meines Vaters übernommen und über 30 Tischler:innen ausgebildet. Jungen und Männerarbeit in der DPSG. Männergruppe gegründet, Teilnehmer an einigen Männertreffen. Über 20 Jahre Vorstand im Gemeinderat einer überörtlichen katholischen Gemeinde.

Wandernd durch das Trauertal

Aufschreiben, was ist. Beschreiben, was war, wie es vielleicht wieder sein könnte, auch wenn es nie wieder so sein wird – das ist eine wahre Herausforderung.

Spiegelung eines Baumes mit Herbstblättern im Wasser

Text: Frank Keil
Foto: derProjektor, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 7te KW. – Elke Naters erzählt in ihrem Protokollroman »Alles ist gut, bis es dann nicht mehr gut ist« nach dem Tod ihres Mannes, wie es wieder annehmbar wird, auch weil die Trauer und der bleibende Verlust zu dem gehören, was man so leichthin wie unbedarft »das Leben« nennt.

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Wenn David nur noch Jude ist

Wer anders ist, das bestimmen die anderen. Das muss der 13-jährige David erfahren, als er sich eher zufällig als Jude outet. Chaos, Liebe, Gewalt, Verrat und Freundschaft – dieser Roman hat alle Zutaten, die ein gutes Jugendbuch braucht. Ein gutes? Mehr als das!

Jugendlicher mit Pfeife hinterm Haus

Text: Ralf Ruhl
Foto: norndara, photocase.de (Symbolbild)

 
David ist Jude. Weiß aber keiner. Also seine Eltern und seine Schwester natürlich, aber niemand in der Schule. Sieht man ja auch niemandem an, ob er arm ist, Krebs hat, gut in Mathe ist oder eben Jude ist. Das will David auch so. Er will nicht angeglotzt werden, angesprochen auf etwas, das für ihn völlig normal und somit gar nicht so wichtig ist, nicht angefeindet werden – und vor allem will er nicht allein sein. Sondern dazugehören. Wie alle pubertierenden Jungen … Danny Wattin’s »Davids Dilemma« ist das Beste, das ich seit Jahren zum Thema Antisemitismus gelesen habe!

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Der hat uns gerade noch gefehlt!

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Mann mit Zeitung im Café

Text: Frank Keil
Foto: inuit, photocase.de

 
Neulich stand ich mit meinem Sohn auf der Wiese vor dem Bundestag. Wir waren zwei von gut Hunderttausend, die gegen den Rechtsruck in unserem Land demonstrierten. Es lag Schnee, es war kalt, aber uns war warm. Ich mit meinem Vater auf einer Demo? Undenkbar. Er hätte das nicht gewollt und ich vermutlich auch nicht.
Eine Generation weiter ist vieles anders. Zum Glück. Was auch notwendig ist, schaut man in die Welt und wie sie bedroht ist, wie sie zum Teil in Flammen steht. Und wie zugleich die alten, überwunden geglaubten Rollenbilder zurückkehren. Wie ein Mann zu sein hat und wie eine Frau und was eine Familie ist und was nicht und ein Dazwischen soll es nicht (mehr) geben. Der ganze alte Scheiß ist wieder da – so denke ich an schlechten Tagen. Und zugleich ist viel Aufbruch, viel Hoffnung, viel Erproben, was möglich ist und jedem und jeder guttun könnte, mit allem Recht zum Irrtum. Unsere Felder, unsere Anliegen. Unsere Männerwege, auf denen wir gehen, sozusagen.

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Jugend forscht!

Neugier geweckt. Studium der Chemie oder Wasserwirtschaft folgt später.

Text und Foto: Alexander Bentheim
Reihe »Bilder und ihre Geschichte«, #21


Spaziergang mit Freunden durch Hamburg-Altona, Sommer 2007, die Kamera liegt locker in der Hand. Wir biegen um eine Ecke, vor uns diese Szene. Jetzt nicht lange zögern, das kenne ich schon, Kamera hoch, kein Justieren von Brennweite oder Belichtungszeit, einfach auslösen, vielleicht habe ich Glück. Der Junge ist auch nicht sofort erkennbar, und das ist gut so.
Eine Sekunde später ist die Szene vorbei. Der Vater hatte den Jungen gerufen, der sich erhob, umdrehte und ihm nachlief. Der Fotograf hinterher.
»Darf dieses Bild veröffentlicht werden?« Der Vater runzelt die Stirn, das sei doch kein richtiges Foto, da sei doch nichts zu erkennen (er hat offenbar andere Vorstellungen von einem interessanten Bild), murmelt dann ein »Okay«. Er sei jedoch in Eile, ein Geschäft schließe gleich, Adressen können also nicht mehr getauscht werden. Ich bleibe zurück mit einem Foto, das zu einem meiner Lieblingsbilder werden wird.



Reihe »Bilder und ihre Geschichte/n«
#20 | Alexander Bentheim | Ursula Schäfer | Manfred »Doci« Flucht | Andreas Kleve, Neugieriges Spielen mit Images
#19 | Alexander Bentheim, Eine Frage der Perspektive
#18 | Ina Buskens, »Männer mögen es, wenn sie etwas härter dargestellt werden, als sie in Wirklichkeit sind.«
#17 | Alexander Bentheim, Zeitenwende / Beleidigungen in der Postmoderne
#16 | Frank Keil, Warten auf den nächsten Zug
#15 | Alexander Bentheim, Im Bistro am Ölberg
#14 | Alexander Bentheim, »Riskanter, als Aktien zu haben …«
#13 | Rolf Lüüs, Geschenkte Momente
#12 | Christian Thiel, Ein Augenblick der Ruhe und Verbundenheit
#11 | Tom Focke, Berliner Trompeten
#10 | Kerstin Maier, 9 Tage Glück / Familiensachen
#09 | Jo Fröhner, Rollentausch am Arbeitsplatz / Wenn Männer Männer pflegen
#08 | Kerstin Maier, Roadmovie / Männersachen
#07 | Caio Jacques, Von Luis zu Mina / Eine Reise zwischen den Geschlechtern
#06 | Alexander Bentheim und Frank Keil, Stephen Sondheim’s Musical »Assassins«
#05 | Soumita Bhattacharya, Mandeep Raikhy’s »A MALE ANT HAS STRAIGHT ANTENNAE«
#04 | Gilles Soubeyrand, Portraits und ein Interview
#03 | Jens Kuhn, Fotografische Männergeschichten und ein Interview
#02 | Kerstin Maier, 11 Freunde
#01 | Sebastian Ansorge, malender Kreativitätsbegleiter

»Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Uwe Sielert, Kiel

zwei Junge Männer am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: benicce, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen- und Männerthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Als Jugendlicher sozialisiert im Christlichen Verein junger Männer (CVJM – heute steht das »M« für Menschen) und als Student der Erziehungswissenschaft (1970-1974) kam ich während des Studiums angesichts der Beschäftigung mit kritischer Sozialisationstheorie gar nicht um die Geschlechterfrage herum. Ohnehin war ich fasziniert davon, zusammen mit Gleichgesinnten das theoretisch-analytische Handwerkszeug selbstreflexiv in gruppendynamischen Settings ausführlich auf die eigene Biografie zu beziehen. »Das Persönliche ist politisch und das Politische ist persönlich« lernten wir aus der feministischen Kritik am Patriarchat, die Notwendigkeit der solidarischen Veränderung (Bloch: »Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst«) aus der marxistischen Philosophie, und die didaktische Umsetzung mit Hilfe der »dynamischen Balance von Ich – Gruppe – Thema im Globe« von Ruth Cohn aus der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Soweit die Theorie und mein politisch-thematischer Zugang.
Im eigenen Gefühlsleben und Verhalten sah das dann nicht immer so gradlinig und klar aus. Der »stumme Zwang der Verhältnisse« produzierte zuhauf blinde Flecken im Bewusstsein des eigenen Männlichkeitsbilds und Geschlechterverhaltens. Das beobachtete Hin und Her der Selbstbilder der Jungen im Jugendzentrum zwischen »Hilfe, ich kann nicht« und »Ich bin der Größte« existierte auch bei uns Studierenden, ganz besonders bei mir, der den Kulturclash zwischen dem CVJM und dem polyamoren Marxismus eines damals kurze Zeit in Dortmund lehrenden Dieter Duhm (»Angst im Kapitalismus«) zu bewältigen versuchte. Immerhin wusste ich von Letzterem, dass auch er beim CVJM angefangen hatte, linker Aktivist und Hochschuldozent wurde, bevor er der akademischen Karriere den Rücken kehrte und ins experimentelle Weltverbesserungsmilieu eintauchte. Welt und Menschen mit jesuanischem Eifer verbessern wollte ich damals auch, nicht besonders revolutionär, eher in pädagogischer Theorie und Praxis, und mich dem »Marsch durch die Institutionen« anschließen. Nach einem Forschungsaufenthalt in den Niederlanden folgten kleinere alternative Projektgründungen und das Mittun an der beginnenden Jungen- und Männerarbeit: Vorhandenes zusammenstellen, systematisieren und vor allem in didaktischer Hinsicht weiterentwickeln.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Mich beschäftigten [1] die Differenz und die Ähnlichkeiten zwischen dem »Prinzip Männlichkeit« und mir selbst wie auch anderen Männern, [2] Jungen- und Männersexualität, [3] die bisherige und weitergehende Entwicklung von Jungenarbeit mit ihren jeweils unterschiedlichen Akzenten (feministisch, antikapitalistisch, antisexistisch, reflektiert, gendersensibel …), und [4] vor allem die Frage, was den konkreten Jungen und Männern in den »Sozialisationsagenturen« (wie es damals kritisch-technizistisch hieß) didaktisch Hilfreiches angeboten werden kann. Seminare, Fortbildungen, Vorträge, Veröffentlichungen waren die Medien, die mir in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften und Diplompädagog*innen zur Verfügung standen.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer entwickelt, ggf. verändert?
Das Gender-Sternchen in der letzten Zeile deutet es schon an: Das Interesse an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Diskurse und vor allem die Einarbeitung in die Sexualwissenschaft und Spezialisierung auf Sexualpädagogik führten zur generellen Öffnung meines geschlechtsbewussten Blicks auf Jungen hin zu einer Sexual- und Genderpädagogik der Vielfalt. Meine Vision selbstbestimmterer, emanzipativer Menschen sah ich zunächst in der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten von Jungen innerhalb ihrer Geschlechtlichkeit und später in der Entdramatisierung der Geschlechtskategorie überhaupt. Es begann die Suche nach vielen anderen Identitätsankern und vor allem die Möglichkeit fluider Selbstdefinitionen, um aus der Tatsache, dass wir als Jungen und Männer (auch) »gemacht werden«, das »doing gender« zu vervielfältigen und pädagogisch zu begleiten.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Schon immer war mir bewusst, dass Jungen und Männer Probleme machen und Probleme haben. Meine Probevorlesung für die Pädagogikprofessur in Kiel lautete beispielsweise »Halt suchen auf schwankendem Boden: Männlichkeit als soziales Problem«. Die erschreckenden Ausmaße männlicher Gewaltausübung waren schon immer unübersehbar, die Ausmaße sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen, die in Wellen öffentlich wurden, verstörten deutlich mein Blick auf Männlichkeit und alle bisherigen Theorien und Konzepte geschlechtsbewusster Arbeit. Mir wurde schlagartig bewusst, dass die kollektiven Traumata von Gewalterfahrungen und der aktuell immer noch ausgeübte »Missbrauch« von Kindern sowie sexuelle Grenzüberschreitungen aller Art heftig wirksam sind. Die eingeschlagenen Wege der Arbeit an männlicher Gewalt und ebenso vorhandener Bedürftigkeit wurden deshalb ja nicht hinfällig, kratzten aber nur oberflächlich am männlichen Sozialisationsmodus mit seinen toxischen Auswirkungen. Und dennoch blieb ich immer skeptisch gegenüber rein antisexistischen Programmen und einer Konzentration auf Gefahrenabwehr.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Ich habe die Geburt meiner beiden Söhne und meiner Tochter als Vater sehr bewusst miterlebt und meine beruflichen Tätigkeiten boten mir potentiell viele Freiräume, eine entscheidende Wegstrecke mit ihnen gemeinsam zu gehen. Ich denke, dass mir das auch weitgehend gelungen ist, wenn ich die gegenwärtige Beziehung zu den erwachsenen Kindern richtig deute. Und dennoch machen mir gelegentliche Konflikte und Rückmeldungen deutlich, wie selten mir gelungen ist, die hohen Ansprüche des beruflichen Wissens über Jungen im persönlichen Alltag zu leben. Ich hätte im kontinuierlichen Kontakt viel mehr geben und bekommen können. Ganz besonders in der Trauer um meinen mit 30 Jahren tödlich verunglückten Sohn ist mir das schmerzlich zu Bewusstsein gekommen. Auch für mich gilt also: Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Herausfordernd, selbstkritisch-ehrlich und eine bleibende Angst vor Zurückweisung.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen- und Männerthemen? Hast du Beispiele?
Im Anschluss an meinen Probevortrag zur »Männlichkeit als soziales Problem« beantragte der tonangebende, kurz vor der Pensionierung stehende Pädagoge des Instituts halb ironisch einen Männerbeauftragten für die Universität Kiel. Meine Seminare im Studium und in Fortbildungen bei diversen Trägern waren immer gut besucht und manche Männer versichern mir heute noch, wichtige Impulse für die eigene Person und Arbeit bekommen zu haben.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Dichter und ausführlicher Kontakt auf einem gemeinsamen Weg: sich selbst und andere ganzheitlich spüren beim lustvollen Imaginieren, Streiten, Leiden, Arbeiten, Tanzen und Ruhen sowie auch einsame Geistesblitze und körperliches Ausgepowertsein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die Erarbeitung und Veröffentlichung meines ersten Buchs »Jungenarbeit« und die ausführlichen Diskussionen dazu mit meinen damaligen Student*innen und anderen bewegten Männern. Die Einführung des Themas »Jungen- und Männersexualität« bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und zusammen mit spannenden Aktivisten der Aids-Hilfe während meiner Mitarbeit an der personalkommunikativen HIV-Präventionskampagne. Und die Berücksichtigung des Gender-Themas bei allen sexualpädagogischen Weiterbildungen der Sexualpädagogik.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Mit den Einrichtungen, die aus meinem sexualpädagogischen Engagement – immer im lustvollen Arbeitsprozess mit anderen – hervorgegangenen sind: dem Institut und der Gesellschaft für Sexualpädagogik und vielen vor allem ehemals, manchmal immer noch dort aktiven Freundinnen und Freunden. Stellvertretend für viele möchte ich meinen langjährigen Freund Frank Herrath hervorheben, mit dem ich viele Wegstrecken gemeinsam zurückgelegt habe. Viele meiner eigenen älteren Lehrer und Tutoren sind inzwischen leider verstorben. Nennen möchte ich auch hier stellvertretend nur meine langjährigen Freunde und inspirierenden Lehrer Konrad Pfaff und Siegfried Keil, die für mich sehr unterschiedliche Beispiele für positiv gelebte Männlichkeit waren: der eine theoretisch kreativ, expressiv und fröhliche Wissenschaft treibend, der andere achtsam, integrativ und langfristig gesellschaftlich engagiert.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Mich haben ihre Botschaften und Haltungen, ihr Biss beim Denken und Handeln angelockt und begeistert sowie die Einladung zum Mitmachen und die Bereitschaft, an einer gemeinsamen Mission wechselseitig inspirierend und wertschätzend zu arbeiten.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Lange fand ich den Kanon albern, den mein Vater trotz schrecklicher Erfahrungen im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft in seiner christlichen Gemeindearbeit am liebsten mit anderen gesungen hat: »Der hat sein Leben am besten verbracht, der die meisten Menschen hat froh gemacht«. Doch inzwischen habe ich den Kern seiner Erfahrungen im Auf und Ab seines entbehrungsreichen Lebens nachvollzogen: sich in Resonanz mit anderen auf das Verbindende, Gelungene und Stärkende zu konzentrieren.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen?
Im persönlichen Liebesleben gab es einige davon, weil die Spannung zwischen dem eigenen Begehren und der persönlichen Weiterentwicklung oft in Konflikt geriet mit dem ebenso geschätzten Festhalten am Erreichten, einschließlich versprochener Beziehungstreue. Beruflich waren es weniger Brüche als Widerstände bei der gesellschaftlichen Resonanz meines sexualpädagogischen Engagements.

Wodurch wurden diese verursacht?
Die Herausforderung konservativ-dogmatischer Gruppierungen durch meine Dekonstruktion heteronormativer Lebensvorstellungen und das Eintreten für das Recht auf altersangemessene Sexualität von Anfang an führte zu gelegentlichen persönlichen Anfeindungen, die mir manche schlaflose Nacht beschieden haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
Aus der feministische Szene spürte und spüre ich immer noch Misstrauen gegenüber einer positiven Sexualkultur, die sich nicht allein auf Gefahrenabwehr beschränkt, sondern das Recht von Jungen und Männern auf sexuelle Bildung einschließt. Da nutzen keine empirischen Hinweise auf den Mangel an sexualpädagogischer Arbeit mit Jungen als sinnvolle Gewaltprävention. Als auch der Missbrauch von Jungen in pädagogischen Organisationen bekannt wurde, wurde die Tatsache allein, dass ich mich pädagogisch mit Jungenarbeit beschäftigt habe, von einer böswilligen Journalistin in den Kontext der Missbrauchsdiskussion gestellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deinem Engagement an?
Ich glaube trotz aller Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Arbeit, dass es auch beim Genderthema darauf ankommt, »die Sachen zu klären und die Menschen zu stärken«. Beides tut allen gut, unabhängig von geschlechtlicher Selbstdefinition oder gesellschaftlicher Zuschreibung. Und inzwischen habe sogar ich (der Zurückweisung immer noch gern aus dem Weg geht) gelernt, in wichtigen Konflikten Position zu beziehen und auch schmerzliche Widerstände auszuhalten.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Selbstreflexiv zu erkunden, warum die Jungen- und Männerthemen in den letzten Jahren nicht mehr so sehr im Fokus meiner persönlichen und wissenschaftlichen Neugier gestanden haben. Die Beantwortung dieser Fragen war ein Anfang dazu.

Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mit mir und meinem Leben «im Reinen sein«, wie es so schön heißt. Rückblicke auf Aufarbeitungen sind dazu ein gangbarer Weg.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Nö – aber danke für die vielen Impulse!

 
 

 
 
 
 
:: Uwe Sielert, Jg. 1949, emeritierter Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Diplom, Promotion und Habilitation in Erziehungswissenschaft. Diplom in Themenzentrierter Interaktion nach Ruth Cohn bei WILL International. Berufliche Stationen: Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Dortmund, Gastdozent an der Vrije Universiteit Amsterdam, Mitarbeiter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln, seit 1992 Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungs- und Lehrschwerpunkte mit einschlägigen Veröffentlichungen in den Bereichen sozialpädagogische Aus- und Fortbildungsdidaktik, Sexualerziehung und Geschlechterpädagogik sowie Pädagogik der Vielfalt. Schwerpunkt im Masterstudiengang Pädagogik »Diversity and Management in Education«. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik. – Kontakt: www.uwe-sielert.de.